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Ein großartiger Bienenkundler

Bericht in der NZZ 23.02.2021, 05.30 Uhr


Martin Heidegger hat alle möglichen Anhänger, von Grünen bis zu Apokalyptikern. Manche nennen ihn den grössten Philosophen seiner Zeit – aber stimmt das wirklich?

Er hat die europäische Tradition des Denkens auf den Kopf gestellt. Er war zwischendurch ein Nationalsozialist. Und ja, Martin Heidegger lohnt auch heute die Lektüre – mit der nötigen Distanz. 


In seiner Schwarzwälder Hütte, ganz ohne Technik: Der deutsche Philosoph Martin Heidegger (1889–1976) dachte lieber hoch im Schwarzwald als unten in der Stadt. 

Was hat uns Martin Heidegger heute (noch) zu sagen? Kein anderer Denker des vergangenen Jahrhunderts hat eine ähnlich grosse Zahl ganz verschiedener Intellektueller so unwiderstehlich inspiriert und so nachhaltig irritiert wie er. Grüne und Feministinnen, moderne Metaphysiker und Apokalyptiker – sie alle werden in Heideggers Werk fündig und schwören ihm deshalb geistige Treue. Umgekehrt kritisieren ihn Rationalisten unterschiedlichen Schlages mit derselben Leidenschaft für sein philosophisches Geraune.

  

Heideggers Zweideutigkeit

  

Engagierte Ökologen feiern im Begriff eines «Wohnens», das als Harmonie mit der Landschaft dem «Bauen» vorausgehen soll, die Vorwegnahme ihrer eigenen höchsten Prinzipien und vereinnahmen dann auch gleich noch Heideggers komplizierte Reflexionen zur Technik kurzerhand für eine beliebte Fortschrittsfeindlichkeit. Kritiker hingegen halten die permanent zur Schau gestellte Naturnähe (im «wilden Schneesturm» der Schwarzwaldhütte setze «die hohe Zeit der Philosophie» ein) für unerträglichen existenziellen Kitsch. 

  

In der Philosophie des Feminismus hat ihm ein lebenslanges Nachdenken über die «Sorge» – als eine angeblich von Frauen verkörperte Dimension des Lebens und ein Substitut mutmasslich männlicher Handlungsorientierung – überraschende Prominenz eingebracht. Kritiker wiederum sehen darin bloss das Klischeebild der sich selbst aufzehrenden, zur Tat unfähigen Frau. 

  

Auf einer übergreifenden Ebene schliesslich ist Heideggers Ansatz, die europäische Tradition der Philosophie seit Plato unter dem Vorzeichen eines Vergessens der «eigentlichen» Frage nach der «Selbstentbergung des Seins» aufzuheben und neu zu fassen, für Generationen von Lesern zu einem Weg der intellektuellen Identifikation und Nachfolge, aber auch zu einem Grund radikaler Ablehnung geworden.

  

Der Trick: Heideggers Sprache

  

All diese Themen hat eine vom expressionistischen Stil der 1920er Jahre geprägte Sprache polemisch wachgehalten. Da Heidegger nie zögerte, neue Begriffe für Sachverhalte zu erfinden, deren philosophische Relevanz er bloss zu ahnen glaubte, verliess er sich weniger auf klare Definitionen als auf die Bereitschaft der Leser, seinen Andeutungen und Wortspielen zu folgen.

  

Was er etwa mit der Formulierung von der «Selbstentbergung des Seins» genau meinte, wusste – und weiss bis heute – niemand verbindlich zu sagen. Deshalb stellte sich bei Philosophen-Kollegen wie Theodor W. Adorno schon früh der Verdacht ein, Heidegger kultiviere einen von frühem Faschismus durchsetzten «Jargon der Eigentlichkeit». Heidegger-Anhänger hingegen haben gerade das Raunen seiner Sätze als Indiz einer prophetischen Berufung aufgefasst – und manchmal tatsächlich zu bedeutenden Schritten des Weiterdenkens auf anderen Wegen entwickelt.

  

Die Ambivalenzen sind von Heideggers Werk vorgegeben. Auf eine Frühphase, in der Vertrautheit mit der eigenen Welt an die Stelle eines wissenschaftlich begründeten Objektbezugs treten sollte, folgte nach einer drastischer «Kehre» die Hoffnung späterer Jahre, «Ereignisse» absoluter Wahrheitsoffenbarung zu erleben. Vor allem jedoch hat Heideggers Mitgliedschaft in Adolf Hitlers Partei zwischen Mai 1933 und Mai 1945 sein Denken insgesamt für viele Philosophie-Leser diskreditiert, sosehr unbeirrte Anhänger bis heute versuchen, die sich daraus ergebenden Probleme herunterzuspielen.

  

Gegen all diese Streitigkeiten hat Jacques Derrida vor mehr als dreissig Jahren die verstörende Bemerkung gesetzt, dass Heideggers Nationalsozialismus ausser Frage stehe und gerade deshalb zu der ganz anderen Frage führen müsse, ob er «ohne jene Affinität zum grössten Philosophen seiner Zeit hätte werden können». Darin liegt bis heute die maximale Provokation, ideologisch-politische Ablehnung und potenzielle intellektuelle Wertschätzung strikt auseinanderzuhalten.

  

Heideggers Denkweg

  

Tatsächlich zeigt sich im historischen Blick eine eigentümliche Synchronie zwischen Heideggers Denkbewegung und der Ideologiebewegung des Nationalsozialismus, die zwar den Wert seiner Philosophie nicht unbedingt aufhebt, aber vielleicht erklärt, warum Inspiration hier – wie so oft – ohne Irritation kaum zu haben ist.

  

Die intellektuelle Identität Heideggers entstand aus zwei entschiedenen Abweichungen gegenüber dem Stand der akademischen Philosophie nach 1900, als deren Koryphäe sein Freiburger Lehrer Edmund Husserl galt. Beide Schritte sind in «Sein und Zeit» eingeschrieben, Heideggers 1927 publiziertem einzigem Text in Buchformat. Die Debatten unter seinen Kollegen waren zu der Gewissheit gelangt, dass dem Bewusstsein als Erkenntnis-«Subjekt» die materielle Wirklichkeit der Dinge als «Objekt» nicht mehr greifbar sei.

  

In diesem Zusammenhang nun tauschte er erstens den Begriff des Bewusstseins gegen den des «Daseins» ein, als eine Konzeption vom Menschen, die seinen Körper einschliessen und ihn den Dingen wieder näherbringen sollte. Daraus folgte zweitens, dass an die Stelle eines wachsenden Abstands zwischen «Subjekt» und «Objekt» – Heidegger nannte dieses Verhältnis «Vorhandenheit» – eine Beziehung der Vertrautheit zwischen dem leiblichen Menschen und den ihn umgebenden Dingen trat, für die er den Begriff «Zuhandenheit» prägte.

  

Weil das leibliche Dasein damit zu einem Teil der Welt der Dinge wurde, ergab sich aber nicht nur eine Beziehung der Vertrautheit, sondern auch ein Verlust an Unabhängigkeit der Menschen gegenüber ihrer Welt. Auf den letzten Seiten von «Sein und Zeit» beschreibt Heidegger diese Konsequenz als «Geschick» des individuellen Lebens, «das im Geschehen der Gemeinschaft des Volkes» bestehe. Hier lag seine Nähe zum frühen deutschen Faschismus und zum Vertrauen auf «Blut und Boden» als Grund der Gemeinschaft, eine Nähe auch, die seinen Enthusiasmus für Hitlers «Machtergreifung» als «völkisches Geschick» erklärt und die Bereitschaft, als Rektor der Freiburger Universität zur «nationalen Erneuerung der Wissenschaft» beizutragen.

  

Schon in Heideggers Vorlesungen der frühen dreissiger Jahre allerdings wird aber auch die Suche nach einer härteren Wahrheitskonzeption deutlich, welche die «Zuhandenheit» als blosse Weltvertrautheit ersetzen sollte. Zu dieser produktiven philosophischen Verunsicherung kamen das «Scheitern des Rektorats» gegenüber den Nazibehörden, die seine hochfliegenden Ideen für die Universität nie wirklich ernst nahmen, und dann im Juli 1934 mit Hitlers «Nacht der langen Messer» die Unterdrückung der vor allem von der SA vertretenen Blut-und-Boden-Mentalität, auf die Heidegger gesetzt hatte.

  

In der auf jenen Sommer folgenden Vorlesung «Einführung in die Metaphysik» wagte er immerhin die Bemerkung, dass die nationale Bewegung «Gefahr laufe, von ihrem Weg abzukommen», und begann zugleich mit der Entfaltung des Gedankens von einer «Selbstentbergung des Seins» als «Wahrheits-Ereignis», der sich von jenem der «Zuhandenheit» als Vertrautheit mit der Welt diametral unterschied. Jetzt sollte es um ein Sich-Zeigen der Dinge gehen, dem die Menschen allein durch ihre «Gelassenheit» noch den nötigen Raum geben konnten, und damit um eine vertikal-hierarchische Vorstellung von absoluter Wahrheit, die an die Elite-Ansprüche der ins politisch-ideologische Zentrum rückenden SS erinnerte.

  

Wer trotz allem bereit ist, sich auf Heideggers Gedanken einzulassen, wird sehen, wie die Intuition von der «Selbstentbergung des Seins» eine Alternative gegenüber dem intellektuell ans Ende gekommenen Muster von «Subjekt» und «Objekt» eröffnete. Dabei liegt die Affinität zur Naziideologie umso deutlicher auf der Hand, je mehr man über die Entstehung des Gedankens weiss. Eben eine solche Spannung zwischen philosophischer Bedeutsamkeit und ideologischer Kontamination artikulierte sich in Heideggers Status an der Universität Freiburg nach 1945. Als Ex-Nazi durfte er nicht auf einen Lehrstuhl zurückkehren, doch seine Veranstaltungen als Lehrbeauftragter waren berühmt und entsprechend überfüllt.

  

Eine Begegnung mit dem Philosophen

  

Ausgerechnet 1968, im emblematischen Jahr der Studentenrevolution, lud mich meine Freiburger Freundin zum Sommerfest des Philosophischen Seminars ein. Für eine Ablehnung war die Freundin zu wichtig, aber als stolzes Mitglied des Sozialistischen Studentenbunds handelte ich mir die Bedingung aus, Heidegger nicht die Hand geben zu müssen – den ich mir als Schreckensfigur im welthistorischen Format vorstellte.

  

Der wirkliche Emeritus mit seinen neunundsiebzig Jahren drehte bei der Feier freundliche Runden unter Studenten, denen er etwas zittrig die Hand schüttelte – auch meine. Ein Gefühl der Empörung kam nicht auf, sondern bloss ein Hauch persönlicher Banalität, der vor ein paar Jahren wiederkehrte, als ich handgeschriebene Kopien eines sich beflissen reimenden Gedichts sah, die Heidegger Gratulanten zu seinem achtzigsten Geburtstag in die Hand gedrückt hatte.


Schon 1968 hatte ich mir die – damals strikt negativ beantwortete – Frage gestellt, ob es unerlässlich für ein erfülltes intellektuelles Leben sei, die Schriften eines solchen Autors zu lesen. Heute heisst eine andere Antwort, dass sich nach einer langen Dauer der Begeisterung für den Gedanken an die Wirklichkeit als «soziale Konstruktion», nach der hohen Zeit des «Konstruktivismus» also, der ja Konvergenzen mit der «Zuhandenheit» des frühen Heidegger aufweist, ein neues Bedürfnis nach konsistenten Konzepten von Wahrheit eingestellt hat; und dass die Schriften des späten Heidegger – des Heidegger nach der «Kehre» – diesem Bedürfnis entgegenkommen.