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Ein großartiger Bienenkundler

Heideggers Erbe

Es kann natürlich nicht darum gehen, Konzepte wie die «Selbstentbergung des Seins» einfach zu übernehmen, weil – wie gesagt – keine Einigkeit darüber besteht, was genau Heidegger mit ihnen sagen wollte, und auch umfangreiche Interpretationen zu keiner endgültigen Klärung führen. Als inspirierend erweist sich eher eine Einstellung, die wohl schon dem Heidegger-Enthusiasmus der Freiburger Kommilitonen von 1969 zugrunde lag – und mit Heideggers exaltierter Sprache zu tun hat. Man bewunderte ihn für die Fähigkeit, exzentrische Denkmöglichkeiten in der Lektüre der Klassiker zu entdecken, und noch mehr für den Versuch, sie in Worten zu artikulieren, die keinesfalls den Gesetzen einer einfachen Logik oder den Kriterien für transparente Definitionen genügen.

  

Heideggers Abweichen von den Traditionen, das oft in neue Richtungen der Reflexion weist, kann also für uns – vielleicht ganz gegen seine Absicht – als ein erster Impuls zu unabhängigem Denken wirken. Dies gilt auch, paradoxerweise und im Sinn einer Steigerung, für das immer wieder kritisierte Ausbleiben begrifflicher Prägnanz, sofern man es in eine Chance intellektueller Offenheit und eigenständigen Denkens umzukehren versteht. Dazu sind Heideggers Texte immer noch gut, wenigstens für Leser, denen es gelingt, die Irritationen seiner Biografie einzuklammern.

  

Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert-Guérard-Professor in Literatur, Emeritus, an der Stanford University. Ende 2020 ist bei Reclam seine Übersetzung des «Handorakels» von Baltasar Gracián aus dem 17. Jahrhundert erschienen.